Evangelisch Pilgern

Ist Pilgern nicht eigentlich katholisch? Luther verwarf das Pilgern im Zusammenhang der sog. Werkgerechtigkeit, nach der dem Menschen ein frommes, von der Kirche aufgetragenes Tun Genugtuung vor Gott verschafft. Pilgern, wie wir es hier und heute leben und verstehen, glaubt nicht an eine Beeinflussung Gottes durch fromme Taten, sondern versteht sich als eine geistliche Übung, als ein Weg der inneren Ausrichtung auf Gott hin.

Insofern trifft die reformatorische Kritik am Wallfahrts- und Pilgerwesen die neue Pilgerbewegung nicht. Es geht um eine Pilgerschaft in Geist und Wahrheit. Dabei können wir durchaus wieder Anschluss nehmen bei Martin Luther und seiner Theologia viatorum: Luther hat nach seinen Pilgererfahrungen in Rom das Pilgern in die Theologie des Unterwegsseins transformiert, in eine Theologie der „geistigen Pilgerschaft“ ganz im Sinne der biblischen Rede vom „wandernden Gottesvolk“. Dass wir dies nicht bloß innerlich verstehen, sondern äußerlich/körperlich vollziehen wollen entspricht der Neuentdeckung der Leiblichkeit des Lebens: wir wollen wirkliche Pilgerwege gehen, von Ort zu Ort, von Herberge zu Herberge, allein oder gemeinsam.

Immer noch verbinden viele (evangelische) Christen mit dem Pilgern eine katholische Tradition und haben von daher Probleme, sich darauf einzulassen. Das protestantische „allein die Schrift“ als Maßstab christlichen Handelns zu wählen, hatte seine gute Berechtigung. (Man kann übrigens wunderbar beim Gehen einen biblischen Text meditieren und aufnehmen). Doch mit der Zeit ändern sich die Bedingungen, unter denen solche sinnvollen Setzungen entstanden sind. Und es kann sein, dass andere Maßstäbe wichtiger werden. Warum also nicht mit Paulus handeln: Prüfet alles und das Gute behaltet.

Foto: Christoph Nötzel

Wie sieht evangelisches Pilgern aus?

Pilgerwege oder Wallfahrten haben eine lange Tradition. Mal erlebten sie eine Hoch-Zeit, mal verschwanden sie fast von der Bildfläche. Heute scheinen sie eine neue Faszination auf die Menschen auszuüben. Was können evangelische Christen davon lernen und in die Praxis umsetzen?

Pilgerwege bieten mit ihrer Tradition eine Hilfestellung für den eigenen Lebens- und Glaubensweg. Ich muss nicht alles neu erfinden. Ich darf mich auf Bewährtes einlassen, das mir Hilfe anbietet. Im Unterwegssein erfährt der eigene Glaube eine Weitung. Ich erschließe mir neue Erfahrungen. Sie weisen über mich und meinen engen Glauben hinaus.

Die Natur als Gottes Schöpfung ist auf evangelischer Seite wenig im Blick. Pilgerwege bieten die Möglichkeit, diesen Erfahrungsraum neu zuzulassen. Gerade Männer finden in der Natur den Raum, der ihnen als Kraftquelle dient und eine Gegenwelt zum Alltag bietet. Hier erfahren sie sich u.a. als Teil einer grandiosen Schöpfung.

Mit dem Aufbrechen auf den Pilgerweg vollziehe ich einen Bruch mit dem Bisherigen. Ich gehe weg von meinem Alltag, von den Sorgen und Belastungen. Ich vollziehe in gewissem Masse eine Umkehr. Der Pilgerweg biete die Chance, umzukehren von „falschen“ Wegen. Er könnte so Teil einer anderen/neuen Bußpraxis werden. Nicht im Sinne des sich etwas Verdienens, sondern im Abstand vom Alltag sich über notwendige Umkehrungen klar zu werden und die Kraft zu gewinnen, dies zu realisieren.

Foto: Christoph Nötzel

 

Der christliche Glaube spielt heute nicht mehr die gleiche Rolle wie in früheren Zeiten. Viele christliche Glaubensaussagen sind in ihrer Bedeutung nicht mehr nachvollziehbar. Die Lehre ist zur Leere geworden. Menschen sehnen sich nach Erfahrungen, die ihnen den Glauben nahebringen. Das Unterwegssein auf dem Pilgerweg als verdichteter Lebensweg, bietet ihnen in der Stille und im Gehen neue Zugangsmöglichkeiten. Menschen wollen den Glauben spüren. Vielen reicht das Wort der Bibel nicht mehr, es muss sich mit den Erfahrungen füllen, sonst bleibt es leblos.

Menschen, die auf dem Pilgerweg unterwegs sind, zieht es immer wieder in die am Wege liegenden Kirchen. Durchaus auch solche Menschen, die lange keine Kirche mehr von innen gesehen haben. Sakrale Gebäude vermitteln eine besondere Atmosphäre. Sie laden ein zum Innehalten, zur Ruhe, zur Liturgie. In ihnen sind Symbole zu entdecken, die Glaube und Leben zusammenbringen, die die Andacht fördern. Hier scheint es, bin ich Gott besonders nah, kann ich einiges über ihn erfahren.

Bei aller – durchaus auch berechtigten – Kritik am Pilgern als Modeerscheinung ist der „Gewinn“ nicht von der Hand zu weisen. Es wird von unserer Arbeit abhängen, ob das so bleibt oder sich das Pilgern zu einer dauerhaften in der Frömmigkeit verwurzelten Praxis entwickelt.